Gerhard Schöne
Das Wolfskind I
Diese Geschichte ist nicht erfunden, auch wenn sie ganz unglaublich klingt. Meine Großmutter mit dem himmelblauen Glasauge hat sie mir erzählt. Und immer, wenn sie sagte: "Bei meinem Glasauge, genau so war es", dann wusste jeder absolut sicher, dass es die pure Wahrheit wahr. Wollt ihr wissen, was für eine tolle Geschichte sie mir erzählt hat? Na dann hört zu

"Die Wege lagen tief verschneit in jener kalten Nacht
Als eine arme Köhlersfrau ihr Kind zur Welt gebracht
Die Frau lag krank und ganz allein mit ihrem kleinen Sohn
Sie gab ihm noch die Brust und starb am nächsten Morgen schon
So laut das Kind auch schrie, es hat kein Menschenohr erreicht
Nur einer Wölfin in dem Wald hat es das Herz erweicht

Sie fand die Hütte, fand das Kind bei jener toten Frau
Und trug's behutsam mit dem Maul zu ihrem Wolfenbau
Zu ihren Jungen legte sie das nackte Menschenkind
Sie leckte es, sie wärmte es und säugte es geschwind
So wuchs das Kind bei Wölfen auf, es jagte mit den Tieren
Fing Mäuse sich zum Abendbrot und lief auf allen Vieren

Es soff aus Pfützen, leckte sich und heulte dann und wann
In einer kalten Winternacht den weißen Vollmond an
So war das mit dem Wolfenkind", hat Großmutter gesagt
"Wie ging es weiter?" habe ich fast jedesmal gefragt
"Wenn du mir bis zur Schulter reichst, erzähle ich dir das
Jetzt ist's genug, bei meinem Aug' aus himmelblauem Glas."