Gerhard Schöne
Die Sammlung des blinden Herrn Stein
Als ich Kind war, da wohnte in unserem Haus
Ein Blinder, der alte Herr Stein
Der schickte mich manchmal zum Einkaufen fort
Manchmal lud er mich zu sich ein
Einmal hat er mir sein Geheimnis gezeigt
Lauter Dosen und Schachteln warn das
Meist leer und doch war ein Geheimnis daran
Ihr werdet sofort hören, was

Die Sehenden heben sich Fotos auf
Was machte der blinde Herr Stein?
Er fing sich Geräusche, Geschichten, Musik
In Dosen und Schächtelchen ein

Zuerst hat er mir eine Muschel gereicht
Drin rauschte ganz ferne das Meer
Ich hörte die Brandung und Möwengeschrei
Dann lief durch den Sand irgendwer
Ein Kind sang ein Seemannslied laut vor sich hin
Herr Stein lauschte auch ganz verzückt
"Das war ich, als ich grad so alt war, wie du"
Sprach er, "Ist schon ganz schön verrückt."

'Ne Schachtel mit Streichhölzern schüttelte er
Und machte sie ein klein Stückchen auf
Da klang aus der Ferne Spieldosenmusik
Und Weihnachtsgesänge herauf
Dann hörte ich Schüsse und Kindergeschrei
Vorbei war es mit der Musik
Herr Stein nahm mir traurig das Schächtelchen weg
Und sagte: "Ja, damals war Krieg."
Die Sehenden heben sich Fotos auf
Was machte der blinde Herr Stein?
Er fing sich Geräusche, Geschichten, Musik
In Dosen und Schächtelchen ein

Erst nach einem Jahr hielt er mir eines Tags
Die liebste Erinnerung hin
Ein zierliches, goldenes Seifenetui
Verliebtes Getuschel darin
Ein junger Mann spielte laut singend Klavier
Dazu schöner Mädchengesang
Herr Stein schnaubte laut in sein Tüchlein und sprach:
"Nur schade, es währte nicht lang."

Die Blechtabakdose des Großvaters hielt
Er mir eines Tages ans Ohr
Daraus kam ein Lokomotivengeschnauf
Geratter und Pfeifen hervor
Dann hörte ich selbst seinen Opa erzähln:
"Mein Zug war total eingeschneit
Da habe ich mit meiner Schaufel allein
Die Schienen von Schneewehn befreit."

Die Sehenden heben sich Fotos auf
Was machte der blinde Herr Stein?
Er fing sich Geräusche, Geschichten, Musik
In Dosen und Schächtelchen ein
Noch oft hat Herr Stein mir ein Döschen gereicht
Schatullen und Schachteln voll Klang
Ich brauchte kein Fernsehen, so spannend war das
Nie war mir die Zeit bei ihm lang
Bei einem Spaziergang fiel er plötzlich um
Man fuhr ihn zur Klinik sofort
Ich machte am nächsten Tag einen Besuch
Still lag er im Krankenbett dort

Die Hände zart an beide Ohren gelegt
So lauschte er völlig betört
Und flüsterte immer: "Hörst du die Musik?"
Ich aber hab gar nichts gehört
Die Nacht darauf starb er, die Hände am Ohr
Als ob er noch mehr hören will
Die Schachteln, Schatullen und Dosen jedoch
Die blieben seit jenem Tag still