Julia Engelmann
Für meinen Bruder
Ich wollte an was Schönes denken
und konnte nicht, die ganze Nacht.
Mir ist nur Schweres eingefallen,
so vieles, was mir Sorgen macht.
Hab lange nicht mehr losgelassen,
lange nicht mehr laut gedacht.
So wollt ich mich ergeben -
und dann hab ich an dich gedacht.

Am Rande einer Felsenklippe,
wo der bassgewellte Himmel
aus allen weitgereisten
perlmuttgrauen Federwolken fällt,
liegt, weich eingerahmt von Weizenflächen,
Wiesen, Bäumen, Bächen,
fast wie von van Gogh bestellt,
ein bernsteingelbes Roggenfeld.

Hier zirpen Grillen,
und Libellen chillen
auf Kamillenblütenwippen,
wirbeln unsere wilden Schritte
um die kornbestickte Mitte.

Schilf, Riffe, Wind, Schiffe
und des Meeres laute Stimme
singen mit der Küste
eine Hymne auf die Stille.
Hier spielen wir beide,
seit wir klein sind,
in der Weite, du und ich,
ganz alleine, seit wir klein sind,
in der Freiheit, du und ich.
Und wann immer etwas ist,
bist du hier, wenn ich dich brauch.
Machmal spiele wir Fangen,
wenn ich falle, fängst du mich auf.

An irgendeinem Vormittag
in irgendeiner Woche -
ich trag dich gerade huckepack,
wir albern durch den Roggen -
steht in der Mitte auf dem Feld
und dreht sich unerschrocken
ein holzgeschnitztes Karussell.
Es wirkt fast wie ein Zirkuszelt,
die Lichterketten leuchten hell,
es spielen leise Glocken.

Ein Karussell wie aus dem Bilderbuch
mit rot-weißen Markisen,
verziert mit Ornamenten,
Bildern, Glühbirnen und Spiegeln.
In der Luft der Duft von Zuckerwatte
und gebrannten Mandeln,
und ein Affe mit Krawatte
musiziert am Leierkasten.
Wir steigen auf die Sättel bunter
Zootiere aus Plastik.
Du hälst die Mähne eines Löwen,
ich den Hals einer Giraffe.
Wir verlieren uns eine Weile
ohne Eile, du und ich,
treiben von alleine
immer weiter, du und ich.
Vielleicht, denke ich leise,
können wir noch länger bleiben,
als uns Lichterschweife wie
Hula-Hoop-Reifen umkreisen.
Da betrachte ich dich,
wie du neben mir sitzt.
Schatten kaspern Faxen
machend über dein Gesicht.
Ich hab dich so lieb,
manchmal lieber als mich.
Ich frag mich, ob du weißt,
was du alles für mich bist.

An einem anderen Vormittag
in einer anderen Woche
passiert etwas sehr Seltsames.
Wir haben das nie besprochen.
Da trete ich einfach so
aus dem Roggen heraus
und verdächtig nah
an den Abgrund heran,
steh mit den Füßen im Sand
am mystischen Rand,
sehe auf das tobende Wasser hinab.
Salziger Sturm umpfeift meine Nase.
Bevor das Dunkel mich einnimmt,
höre ich dich sagen:
"Du musst nicht in jeden Abgrund springen,
um Tiefgang zu haben."
Wir kehren zusammen
zum Roggen zurück.
Still spielen wir weiter,
als wenn gar nichts ist.
Ich hab dich so lieb,
manchmal lieber als mich.
Weißt du eigentlich,
was du alles für mich bist?

Du bist diese Sache,
die auch hell ist, wenn ich dunkel bin.
Du bist der Gedanke,
der in Kälte mich zum Schmunzeln bringt.
Du bist der Strauß aus Luftballons,
der mein Haus nach oben zieht.
Du bist der Parabelflug,
der gegen meine Schwerkraft siegt.

Und ich, ich will dein Vorbild sein
und will dich beschützen.
Ich könnte sicher leichter sein,
doch eines sollst du wissen:
Wenn immer etwas ist,
ich bin hier, wenn du mich brauchst.
Ich komm zu dir uns mit dir mit,
und wenn du fällst, fang ich dich auf.

Wenn ich weggehen will,
kann ich es nicht wegen dir.
Wenn ich alles schlecht sehen will,
kann ich es nicht wegen dir.
Du bist meine Hoffnung,
und mit dir kann ich nie einsam sein.
Du bist mein Fänger im Roggen,
und ich will gerne deiner sein.