Reinhard Mey
Ich liebe es, unter Menschen zu sein
[Songtext zu „Ich liebe es, unter Menschen zu sein“]

[Strophe 1]
Was gibt's Schöneres als an diesem Tag im Sonnenschein
Auf der Bank im Park zu sitzen, still und ganz allein
Mit Amsel, Drossel, Fink und Star, da platzt mit Gebrüll
Eine entfesselte Schulklasse in mein Idyll
Gefolgt von einem bleichen, unterwürfigen Lehrer
So ein Schülerversteher, so ein ganz legerer
Die Kinder werfen Kaffee-To-Go-Becher in die Gegend
Und ihr Wortschatz ist schamverletzend und besorgniserregend
Sie schnippen Kippen in das Gras und rempeln mich an
„Ey, du Opfer, mach dich hier mal nicht so dicke, Mann!“
„Kinder, geht's auch etwas leiser?“, der Lehrer schreitet ein
Die Kinder zeigen sich auf ihren Smartphones Schweinerei'n

[Refrain]
Ich liebe es, unter Menschen zu sein
Ich liebe es, unter Menschen zu sein

[Strophe 2]
Ich liebe es, von Zeit zu Zeit ins Wirtshaus zu geh'n
Mit dem schönen festen Vorsatz, tief ins Glas zu seh'n
Allein in meiner stillen Ecke mit meinem Wein
Da kommt die laute Stillgruppe und der Gesangsverein
Da kommt der Fleischgroßhändler mit seinem kläffenden Köter
Und der Bürgermeistersohn, ein tödlicher Nervtöter
Die smarten jungen Eltern kommen, die, hoch die Tassen
Die Erziehung ihrer Blagen der Allgemeinheit überlassen
Ein Kind kotzt auf den Tisch, das andre wirft seinen Schuh
Ein angetrunk'ner Schwätzer torkelt direkt auf mich zu
„Ist neben dir noch frei?“, „Bedaure, mein Herr, leider nein“
Er setzt sich ächzend, übelriechend hin zu mir
Und gießt sein Bier über mein Bein
[Refrain]
Ich liebe es, unter Menschen zu sein
„Kannst du mir noch einmal verzeih'n?“
Ich liebe es, unter Menschen zu sein
„Komm, gieß mein Glas noch einmal ein“
Ich liebe es, unter Menschen zu sein

[Strophe 3]
Im Kino, an der Bar, im Restaurant ohne Hemmschwelle
Wo immer ein Platz frei ist, rücken sie mir auf die Pelle
Egal, ob sie am Pool die Liege neben mir aussuchen
Oder im Großraumwagen den Sitz neben meinem buchen
Es ist das Phänomen der Kohäsion, der Moleküle
Wenn in 'nem leeren Wartesaal einhundert freie Stühle stehen
Geht der erste, der herein kommt unabänderlich
Schnurstracks durch den ganzen Saal und setzt sich neben mich
Und so werd' ich manchmal das Gefühl nicht los
Sie woll'n nicht nur neben mir sitzen, sie woll'n auf meinen Schoß
Es ist dunkel, nass und kalt und es ist viertel nach zehn
Ich muss nach Haus durch den dunklen Fußgängertunnel geh'n
Ich steig' hinab, hüpf' zwischen Lachen von Urin
Und Erbroch'nem hin und her und da plötzlich seh' ich ihn
Er hat recht derbes Schuhwerk an und keine Haare
Dafür 'nen Baseballschläger und ich nur 'ne Gitarre
Mit einer Hand zerdrückt er eine volle Bierdose
Wirft sie nach mir, dann holt er einen Schlagring aus der Hose
Das war's, ich habe keine Chance gegen den Stier
Da hör ich plötzlich die St.-Pauli-Hymne hinter mir
Drei Dutzend St.-Pauli-Fans zieh'n mich in ihre Reih'n
Und ich häng' mich bei zwei großen, breiten Kuttenträgern ein
[Refrain]
Tja, manchmal lieb' ich es wirklich, unter Menschen zu sein
FC St. Pauli, ab sofort mein Verein
Ich liebe es, unter Menschen zu sein
Du gehst niemals allein
Ich liebe es, unter Menschen zu sein
Plötzlich nichtig und klein
Ich liebe es, unter Menschen zu sein