Reinhard Mey
Im Berg
Draußen vorm Fenster ist noch Nacht
Schlaftrunken steht er auf, sie macht
Ihm Kaffee, er geht aus dem Zimmer
Das Haus liegt noch in tiefer Ruh'
Er zieht die Haustür leise zu
Und nimmt denselben Weg wie immer
Der Bahn entlang, bis zum Kontor
Und durch das braune Zechentor
Der Pförtner grüßt ihn stumm, seit Jahren
Er zieht den schweren Drillich an
Den Helm, das Grubenlicht daran
Um mit der Frühschicht einzufahren

Eng in den Förderkorb gedrängt
Sieht er sich selbst dort eingezwängt
Als ob ein Film vor ihm abliefe
Alle Gespräche sind verstummt
Nur das gewalt'ge Stahlseil summt
Während der Reise in die Tiefe
Die letzte Sohle ist erreicht
Staubige, heiße Luft umstreicht
Ihn, Räder schwirr'n und Bänder singen
Durch Stollen und Streb weiter fort
Um schließlich in der Glut vor Ort
Ins Herz der Erde einzudringen
Schweißtropfen ziehn durch sein Gesicht
Bahnen im Staub, er spürt es nicht
Er treibt den Stollen mühsam weiter
Spricht mit sich selbst, er ist allein
Den unruhigen Lampenschein
Und die Gedanken als Begleiter
Nur manchmal, wenn er innehält
Träumt er, er könne dieser Welt
Durch einen Wetterschacht entfliehen
Und einem Adler gleich im Wind
Hoch über seinem Labyrinth
Über die Zechentürme ziehen

Müd' spuckt der Förderkorb ihn aus
Durch's Tor, der Bahn entlang, nach Haus'
Sie wartet dort am Siedlungsende
Sie hat den Tisch für ihn gedeckt
Sie lächelt. Danke, mh, es schmeckt!
Er stützt den Kopf in beide Hände
Er schließt die Augen, ja er weiß
Für seine Mühe, Angst und Schweiß
Wird es gerechten Lohn nie geben
Und ob er fortzugehen versucht
Und gleich, ob er den Berg verflucht
Er könnte nicht ohne ihn leben