Reinhard Mey
Das war ein guter Tag
Das war ein guter Tag, als ich in Rechnen eine Eins bekam!
Es traf mich wie ein Blitz, erstarrt in ungläubigem Staunen
Als ich aufstand und nach vorn ging und mein Heft entgegennahm
Ging durch die Bänke hinter mir ein Wispern und ein Raunen
Soviel Worte, soviel Tränen, soviel Selbstvertrau‘n verlor‘n
Jetzt stand in meinem Heft der kleine, rote Tintenkringel!
Ein Kichern: Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn
Ich lief rot an und heulte vor Glück bis zur Pausenklingel
An diesem Tag, da war‘s, als hätt‘ ich eine Ritterrüstung an
Da prallte alles ab, der Neid, die Hähme und das Kläffen
Da war ich unverwundbar, da wusst‘ ich, heute kann
Mich durch kein Birkenblatt im Rücken der Speer des Lehrers treffen
Wie ein Triumpfzug war der Heimweg, der vor mir lag
Das war ein guter Tag!

Das war ein guter Tag, als ich nach der Chorprobe mit ihr ging
Im Schneetreiben, den Weg von Hermsdorf bis nach Blankenfelde
Wir sangen und erzählten, unser beider Atem hing
Wie kleine weiße Wort-Wölkchen hinter uns in der Kälte
Ich spürte nicht den Wind, der in Gesicht und Hände schnitt
Als wir, um uns zu wärmen, uns bei den Armen nahmen
Ihr zugewandt folgte ich ihren Worten, ihrem Schritt
Und als wir in der Dämmerung vor ihr Elternhaus kamen
Küsste sie mich mit gespitzten Lippen auf den Mund
Verstohlen, ohne Warnung, beinahe wie aus Versehen
Und ließ mich lachend stehn und ließ mich sprachlos und weidwund
Den gleichen, langen Weg wieder zurück nach Hause gehen
Der tiefverschneit inzwischen in dunkler Winternacht lag
Das war ein guter Tag!
Das war ein guter Tag, als in der Nacht das Kind nach Hause kam!
Nach all den Ängsten, da hatt‘ ich gut den Gelass‘nen spielen
Als ich ihn wortlos an der Haustür in die Arme nahm
Wie alle Sorgen, alle Qualen da von uns abfielen!
Das bange auf-die-Uhr-Sehn: Wo er sich jetzt noch rumtreibt?
Na, das wird ihm noch leidtun, na, das wird er noch bedauern
Na, der kann was erleben! Wo er nur so lange bleibt?
Auf seinen Schritt im Flur, ein Geräusch auf der Straße lauern
Lass ihn jetzt heimkommen, egal, ich kann alles verzeihn
Den Ärger, das Minutenzähl‘n, das kummervolle Wachen!
Lass ihn nur heimkommen, lass ihm nichts zugestoßen sein!
Ich sage keinen Ton, ich werd ihm keinen Vorwurf machen
Ganz still werde ich sein, ich schwör, dass ich nichts sag'!
Das war ein guter Tag!

Das ist ein guter Tag, der über den Dächern der Stadt aufgeht
Wie all die unerwähnten, in Erinnerung verschwomm‘nen
Denn auch über dem unscheinbarsten, alltäglichsten weht
Der Hauch des Einzigen und das Versprechen des Vollkomm‘nen
Ich bin bereit, zu lernen, seine Kostbarkeit zu seh'n
Mich auf ihn einzulassen und ihm jede Chance zu geben
Ich bin bereit, den langen Weg bis ans Ende zu geh'n
Und bis zum allerletzten Ton den Ausklang zu erleben
Im Wissen, dass ich eines Tages nichts anderes mehr
Erbitten und ersehnen, dass ich gar nichts auf der Erde
So sehr wie einen neuen Morgen, eine Wiederkehr
Des unscheinbarsten, alltäglichsten Tags erflehen werde
Ich weiss, was ich sag -
Das ist ein guter Tag!