Heinrich Heine
Rezensionen - Kapitel 2
                      Gedichte von Johann Baptist Rousseau
                                    Krefeld, bei Funke, 1823
                          Poesien für Liebe und Freundschaft
                                             Von demselben
                   Hamm, bei Schmitz und Wundermann. 1823
                                                     (1823)

    Die Gefühle, Gesinnungen und Ansichten des Jünglingsalters sind das Thema dieser zwei Bücher. Ob der Verfasser die Bedeutung dieses Alters völlig begriffen hat, ist uns nicht bekannt; doch ist es unverkennbar, daß ihm die Darstellung desselben nicht mißlungen ist. – Was will ein Jüngling? Was will diese wunderliche Aufregung in seinem Gemüte? Was wollen jene verschwindenden Gestalten, die ihn jetzt ins Menschengewühle, und nachher wieder in die Einsamkeit locken? Was wollen jene unbestimmten Wünsche, Ahnungen und Neigungen, die sich ins Unendliche ziehen, und verschwinden, und wieder auftauchen und den Jünglingen zu einer beständigen Bewegung antreiben? Jeder antwortet hier auf seine eigne Weise, und da auch wir das Recht haben, unseren eignen Ausdruck zu wählen, so erklären wir jene Erscheinung mit den Worten: »Der Jüngling will eine Geschichte haben.« Das ist die Bedeutung unseres Treibens in der Jugend; wir wollen was erlebt haben, wir wollen erbaut und zerstört, genossen und gelitten haben; im Mannesalter ist schon manches dergleichen erlangt, und jener brausende Trieb, der vielleicht die Lebenskraft selbst sein mag, ist schon etwas abgedämpft und in ein ruhiges Bett geleitet. Doch erst der Greis, der im Kreise seiner Enkel unter der selbstgepflanzten Eiche, oder unter den Leichen seiner Lieben auf den Trümmern seines Hauses sitzt, fühlt jenen Trieb, jenes Verlangen nach einer Geschichte, in seinem Herzen gänzlich befriedigt und erloschen. – Wir können jetzt die Hauptidee obiger zwei Bücher genugsam andeuten, wenn wir sagen, daß der Verfasser in dem ersten sein Streben, eine Geschichte zu haben, und in dem andern die ersten Anfänge seiner Geschichte dargestellt hat. Wir nannten die Darstellung gelungen, weil der Verfasser uns nicht Reflexionen über seine Gefühle, Gesinnungen und Ansichten, sondern diese letzteren selbst gegeben hat in den von ihnen notwendig hervorgerufenen Ansprüchen, Tätigkeiten und anderen Äußerlichkeiten. Er hat die ganze Außenwelt ruhig auf sich einwirken lassen, und frei und schlicht, oft großartig-ehrlich und kindlich-naiv ausgesprochen, wie sie sich in seinem bewegten Gemüte abgespielt. Der Verfasser hat hierin den obersten Grundsatz der Romantikerschule befolgt und hat, statt nach der bekannten falschen Idealität zu streben, die besondersten Besonderheiten eines einfältiglichen, bürgerlichen Jugendlebens in seinen Dichtungen hingezeichnet. Aber was ihn als Dichter bekundet, ist: daß in jenen Besonderheiten sich wieder das Allgemeine zeigt, und daß sogar in jenen niederländischen Gemälden, wie sie uns der Verfasser in den Sonetten manchmal dargibt, das Idealische selbst uns sichtbar entgegen tritt. Diese Wahl und Verbindung der Besonderheiten ist es ja, woran man das Maß der Größe eines Talents erkennen kann; denn wie des Malers Kunst darin besteht, daß sein Auge auf eine eigentümliche Weise sieht, und er z. B. die schmutzigste Dorfschenke gleich von der Seite auffaßt und zeichnet, von welcher sie eine dem Schönheitssinne und Gemüt zusagende Ansicht gewährt: so hat der wahre Dichter das Talent, die unbedeutendsten und unerfreulichsten Besonderheiten des gemeinen Lebens so anzuschauen und zusammen zu setzen, daß sie sich zu einem schönen, echt poetischen Gedichte gestalten. Deshalb hat jedes echte Gedicht eine bestimmte Lokalfärbung, und im subjektiven Gedichte müssen wir das Lokal erkennen, wo der Dichter lebt. Aus den vorliegenden Dichtungen haucht uns der Geist der Rheingegenden an, und wir finden darin überall Spuren des dortigen Treibens und Schaffens, des dortigen Volkscharakters mit all seiner Lebensfreude, Anmut, Freiheitsliebe, Beweglichkeit und unbewußten Tiefe. – In Hinsicht der Kunststufe halten wir das zweite der beiden Bücher für vorzüglicher als das erste, obschon dieses mehr Ansprechendes und Kräftiges enthält. In dem ersten Buche ist noch die Bewegung der Leidenschaft vorherrschend, eben weil in demselben das unruhige Streben nach Geschichte sich ausspricht; im zweiten dämmert schon eine epische Ruhe hervor, da bereits einiger Geschichtsstoff vorhanden ist, der bestimmte Umrisse gewährt. – Nun weiß aber jeder – und wer es nicht weiß, erfahre es hier – daß die Leidenschaft ebensogut Gedichte hervorbringt als der eingeborene poetische Genius. Darum sieht man so viele deutsche Jünglinge, die sich für Dichter halten, weil ihre gährende Leidenschaft, etwa das Hervorbrechen der Pubertät oder der Patriotismus oder der Wahnsinn selbst, einige erträgliche Verse erzeugt. Darum sind ferner manche Winkelästhetiker, die vielleicht einen zärtlichen Kutscher oder eine zürnende Köchin in poetische Redensarten ausbrechen sahen, zu dem Wahne gelangt: die Poesie sei gar nichts anderes als die Sprache der Leidenschaft. Sichtbar hat unser Verfasser in dem ersten Buche manches Gedicht durch den Hebel der Leidenschaft hervorgebracht: doch von den Gedichten des zweiten Buches läßt sich sagen, daß sie zum Teil Erzeugnisse des Genius sind. Schwerer ist es, das Maß der Kraft desselben zu bestimmen, und der Raum dieser Blätter erlaubt nicht eine solche Untersuchung. Wir gehen daher über zu einem mehr äußerlichen Bezeichnen der beiden Bücher. Das erste enthält hundert einzelne und verbundene Gedichte, in verschiedenen Vers- und Tonarten. Der Verfasser gefällt sich darin, die meisten südlichen Formen nachzubilden, mit mehr oder weniger Erfolg. Doch auch die schlicht deutsche Spruchweise und das Volkslied sind nicht vergessen. Seiner Kürze halber sei folgender Spruch erwähnt:

        Mir ist zuwider die Kopfhängerei
        Der jetzigen deutschen Jugend,
        Und ihre, gleich einer Litanei,
        Auswendig gelernte Tugend.

    Die Volkslieder sind zwar im rechten Volkstone, aber nach unserem Bedünken etwas zu massiv geschrieben. Es kommt darauf an, den Geist der Volksliedformen zu erfassen, und mit der Kenntnis desselben nach unserem Bedürfnis gemodelte, neue Formen zu bilden. Abgeschmackt klingen daher die Titulatur-Volkslieder jener Herren, die den heutigsten Stoff aus der gebildeten Gesellschaft mit einer Form umkleiden, die vielleicht ein ehrlicher Handwerksbursche vor zweihundert Jahren für den Erguß seiner Gefühle passend gefunden. Der Buchstabe tötet, doch der Geist macht lebendig. – Das zweite Buch enthält nur Sonette, wovon die erste Hälfte, »Tempel der Liebe« überschrieben, aus poetischen Apologien befreundeter Geister besteht. Unter den Liebessonetten halten wir am gelungensten XVI, XVIII, XX, XXI, XXII, XXXVI. Im »Tempel der Freundschaft« zeichnen wir aus die Sonette an Strauß, Arnim und Brentano, A. W. v. Schlegel, Hundeshagen, Smets, Kreuser, Rückert, Blomberg, Löben, Immermann, Arndt und Heine. Unter diesen hat uns das Sonat an J. Kreuser am meisten angesprochen. Das Sonett an E. M. Arndt finden wir löblich, weil der Verfasser nicht, wie so manche zahme Leute, aus bekannten Gründen sich scheut, von diesem ehrenwerten Manne öffentlich zu sprechen. In diesem Sonette wollen wir den zweiten Vers nicht verstehen; Babel liegt nicht an der Seine, das ist ein widerwärtiger geographischer Irrtum von 1814. Im Ganzen scheint kein tadelsüchtiger Geist in diesem »Tempel der Freundschaft« zu wohnen, und es mag hie und da das versifizierte Wohlwollen allerdings etwas zu reichlich gespendet sein. Besonders ist dies der Fall in den Sonetten an H. Heine, den der Verfasser auch schon im ersten Buche gehörig bedacht, und den wir hier mit acht Sonetten begabt finden, wo andere Leute mit einem einzigen beehrt sind. Heine's Haupt wird durch jene Sonette mit einem so köstlichen Lorbeerzweige geschmückt, daß Herr Rousseau sich wahrhaft einmal in der Folge das Vergnügen machen muß, dieses von ihm so schön bekränzte Haupt mit niedlichen Kotkügelchen zu bewerfen; wenn solches nicht geschieht, so ist es jammerschade und ganz gegen Brauch und Herkommen, und ganz gegen das Wesen der gewöhnlichen menschlichen Natur.