Heinrich Heine
Das Buch Le Grand - Kapitel 59
                                             Kapitel XXV

    Auf dem Platze La Bra spaziert, sobald es dunkel wird, die schöne Welt von Verona oder sitzt dort auf kleinen Stühlchen vor den Kaffeebuden und schlürft Sorbett und Abendkühle und Musik. Da läßt sich gut sitzen, das träumende Herz wiegt sich auf süßen Tönen und erklingt im Widerhall. Manchmal, wie schlaftrunken, taumelt es auf, wenn die Trompeten erschallen, und es stimmt ein mit vollem Orchester. Dann ist der Geist wieder sonnig ermuntert, großblumige Gefühle und Erinnerungen mit tiefen schwarzen Augen blühen hervor, und drüber hin ziehen die Gedanken, wie Wolkenzüge, stolz und langsam und ewig.

    Ich wandelte noch bis spät nach Mitternacht durch die Straßen Veronas, die allmählich menschenleer wurden und wunderbar widerhallten. Im halben Mondlichte dämmerten die Gebäude und ihre Bildwerke, und bleich und schmerzhaft sah mich an manch marmornes Gesicht. Ich eilte schnell den Grabmälern der Scaliger vorüber; denn mir schien, als wolle Can Grande, artig wie er immer gegen Dichter war, von seinem Rosse herabsteigen und mich als Wegweiser begleiten. »Bleib du nur sitzen«, rief ich ihm zu, »ich bedarf deiner nicht, mein Herz ist der beste Cicerone und erzählt mir überall die Geschichten, die in den Häusern passiert sind, und bis auf Namen und Jahrzahl erzählt es sie treu genug.«

    Als ich an den römischen Triumphbogen kam, huschte eben ein schwarzer Mönch hindurch, und fernher erscholl ein deutsch brummendes Werda? »Gut Freund!« greinte ein vergnügter Diskant.

    Welchem Weibe aber gehörte die Stimme, die mir so süß unheimlich in die Seele drang, als ich über die Scala Mazzanti stieg? Es war Gesang wie aus der Brust einer sterbenden Nachtigall, todzärtlich und wie hülferufend an den steinernen Häusern widerhallend. Auf dieser Stelle hat Antonio della Scala seinen Bruder Bartolomeo umgebracht, als dieser eben zur Geliebten gehen wollte. Mein Herz sagte mir, sie säße noch immer in ihrer Kammer und erwarte den Geliebten und sänge nur, um ihre ahnende Angst zu überstimmen. Aber bald schienen mir Lied und Stimme so wohlbekannt, ich hatte diese seidnen, schaurigen, verblutenden Töne schon früher gehört, sie umstrickten mich wie weiche flehende Erinnerungen, und – »O du dummes Herz«, sprach ich zu mir selber, »kennst du denn nicht mehr das Lied vom kranken Mohrenkönig, das die tote Maria so oft gesungen? Und die Stimme selbst – kennst du denn nicht mehr die Stimme der toten Maria?«

    Die langen Töne verfolgten mich durch alle Straßen, bis zum Gasthof Due Torre, bis ins Schlafgemach, bis in den Traum – Und da sah ich wieder mein süßes gestorbenes Leben schön und regungslos liegen, die alte Wachfrau entfernte sich wieder mit rätselhaftem Seitenblick, die Nachtviole duftete, ich küßte wieder die lieblichen Lippen, und die holde Leiche erhob sich langsam, um mir den Gegenkuß zu bieten.

    Wüßte ich nur, wer das Licht ausgelöscht hat.