Heinrich Heine
Das Buch Le Grand - Kapitel 40
                                                 Kapitel VI

    Tirili! Tirili! ich lebe! Ich fühle den süßen Schmerz der Existenz, ich fühle alle Freuden und Qualen der Welt, ich leide für das Heil des ganzen Menschengeschlechts, ich büße dessen Sünden, aber ich genieße sie auch.

    Und nicht bloß mit den Menschen, auch mit den Pflanzen fühle ich, ihre tausend grünen Zungen erzählen mir allerliebste Geschichten, sie wissen, daß ich nicht menschenstolz bin und mit den niedrigsten Wiesenblümchen ebenso gern spreche wie mit den höchsten Tannen. Ach, ich weiß ja, wie es mit solchen Tannen beschaffen ist! Aus der Tiefe des Tals schießen sie himmelhoch empor, überragen fast die kühnsten Felsenberge – Aber wie lange dauert diese Herrlichkeit? Höchstens ein paar lumpige Jahrhunderte, dann krachen sie altersmüd zusammen und verfaulen auf dem Boden. Des Nachts kommen dann die hämischen Käuzlein aus ihren Felsenspalten hervorgehuscht und verhöhnen sie noch obendrein: »Seht, ihr starken Tannen, ihr glaubtet euch mit den Bergen messen zu können, jetzt liegt ihr gebrochen da unten, und die Berge stehen noch immer unerschüttert.«

    Einem Adler, der auf seinem einsamen Lieblingsfelsen sitzt und solcher Verhöhnung zuhört, muß recht mitleidig zumute werden. Er denkt dann an das eigene Schicksal. Auch er weiß nicht, wie tief er einst gebettet wird. Aber die Sterne funkeln so beruhigend, die Waldwasser rauschen so trostvoll, und die eigene Seele überbraust so stolz all die kleinmütigen Gedanken, daß er sie bald wieder vergißt. Steigt gar die Sonne hervor, so fühlt er sich wieder wie sonst und fliegt zu ihr hinauf, und wenn er hoch genug ist, singt er ihr entgegen seine Lust und Qual. Seine Mit-Tiere, besonders die Menschen, glauben, der Adler könne nicht singen, und sie wissen nicht, daß er dann nur singt, wenn er aus ihrem Bereich ist, und daß er aus Stolz nur von der Sonne gehört sein will. Und er hat recht; es könnte irgendeinem von der gefiederten Sippschaft da unten einfallen, seinen Gesang zu rezensieren. Ich habe selbst erfahren, wie solche Kritiken lauten: das Huhn stellt sich dann auf ein Bein und gluckt, der Sänger habe kein Gemüt; der Truthahn kullert, es fehle ihm der wahre Ernst; die Taube girrt, er kenne nicht die wahre Liebe; die Gans schnattert, er sei nicht wissenschaftlich; der Kapaun kikert, er sei nicht moralisch; der Dompfaff zwitschert, er habe leider keine Religion; der Sperling piepst, er sei nicht produktiv genug; Wiedehopfchen, Elsterchen, Schuhuchen, alles krächzt und ächzt und schnarrt – Nur die Nachtigall stimmt nicht ein in diese Kritiken, unbekümmert um die ganze Mitwelt, ist nur die rote Rose ihr einziger Gedanke und ihr einziges Lied, sehnsüchtig umflattert sie die rote Rose und stürzt sich begeistert in die geliebten Dornen und blutet und singt.