Heinrich Heine
Das Buch Le Grand - Kapitel 3
                                             Kapitel III

                                             Und sie ließ mich am Leben,                                              und ich lebe, und das ist die Hauptsache.

    Mögen andre das Glück genießen, daß die Geliebte ihr Grabmal mit Blumenkränzen schmückt und mit Tränen der Treue benetzt – Oh, Weiber! haßt mich, verlacht mich, bekorbt mich! aber laßt mich leben! Das Leben ist gar zu spaßhaft süß; und die Welt ist so lieblich verworren; sie ist der Traum eines weinberauschten Gottes, der sich aus der zechenden Götterversammlung à la francaise fortgeschlichen und auf einem einsamen Stern sich schlafen gelegt und selbst nicht weiß, daß er alles das auch erschafft, was er träumt – und die Traumgebilde gestalten sich oft buntscheckig toll, oft auch harmonisch vernünftig – die Ilias, Plato, die Schlacht bei Marathon, Moses, die Mediceische Venus, der Straßburger Münster, die französische Revolution, Hegel, die Dampfschiffe usw. sind einzelne gute Gedanken in diesem schaffenden Gottestraum – aber es wird nicht lange dauern, und der Gott erwacht und reibt sich die verschlafenen Augen und lächelt – und unsre Welt ist zerronnen in nichts, ja, sie hat nie existiert.

    Gleichviel, ich lebe. Bin ich auch nur das Schattenbild in einem Traum, so ist auch dieses besser als das kalte, schwarze, leere Nichtsein des Todes. Das Leben ist der Güter höchstes, und das schlimmste Übel ist der Tod. Mögen berlinische Gardeleutnants immerhin spötteln und es Feigheit nennen, daß der Prinz von Homburg zurückschaudert, wenn er sein offenes Grab erblickt – Heinrich Kleist hatte dennoch ebensoviel Courage wie seine hochbrüstigen, wohlgeschnürten Kollegen, und er hat es leider bewiesen. Aber alle kräftige Menschen lieben das Leben. Goethes Egmont scheidet nicht gern »von der freundlichen Gewohnheit des Daseins und Wirkens«. Immermanns Edwin hängt am Leben »wie'n Kindlein an der Mutter Brüsten«, und obgleich es ihm hart ankömmt, durch fremde Gnade zu leben, so fleht er dennoch um Gnade:

      »Weil Leben, Atmen doch das Höchste ist«.

    Wenn Odysseus in der Unterwelt den Achilleus als Führer toter Helden sieht und ihn preist wegen seines Ruhmes bei den Lebendigen und seines Ansehens sogar bei den Toten, antwortet dieser:

      »Nicht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!
      Lieber ja wollt ich das Feld als Tagelöhner bestellen
      Einem dürftigen Mann, ohn Erbe und eigenen Wohlstand,
      Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen.«

    Ja, als der Major Düvent den großen Israel Löwe auf Pistolen forderte und zu ihm sagte: »Wenn Sie sich nicht stellen, Herr Löwe, so sind Sie ein Hund«; da antwortete dieser: »Ich will lieber ein lebendiger Hund sein, als ein toter Löwe!« und er hatte recht – Ich habe mich oft genug geschlagen, Madame, um dieses sagen zu dürfen – Gottlob, ich lebe! In meinen Adern kocht das rote Leben, unter meinen Füßen zuckt die Erde, in Liebesglut umschlinge ich Bäume und Marmorbilder, und sie werden lebendig in meiner Umarmung. Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andre, mit ihren sämtlichen Gliedmaßen, zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick ist mir ja eine Unendlichkeit! ich messe nicht die Zeit mit der Brabanter oder mit der kleinen Hamburger Elle, und ich brauche mir von keinem Priester ein zweites Leben versprechen lassen; da ich schon in diesem Leben genug erleben kann, wenn ich rückwärts lebe, im Leben der Vorfahren, und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der Vergangenheit.

    Und ich lebe! Der große Pulsschlag der Natur bebt auch in meiner Brust, und wenn ich jauchze, antwortet mir ein tausendfältiges Echo. Ich höre tausend Nachtigallen. Der Frühling hat sie gesendet, die Erde aus ihrem Morgenschlummer zu wecken, und die Erde schauert vor Entzücken, ihre Blumen sind die Hymnen, die sie in Begeisterung der Sonne entgegensingt – die Sonne bewegt sich viel zu langsam, ich möchte ihre Feuerrosse peitschen, damit sie schneller dahinjagen. Aber wenn sie zischend ins Meer hinabsinkt und die große Nacht heraufsteigt mit ihrem großen sehnsüchtigen Auge, oh! dann durchbebt mich erst recht die rechte Lust, wie schmeichelnde Mädchen legen sich die Abendlüfte an mein brausendes Herz, und die Sterne winken, und ich erhebe mich und schwebe über der kleinen Erde und den kleinen Gedanken der Menschen.